Gedanken zur Zeit
7. März 2022Sind unsere Virologen, Epidemiologen, Infektiologen und alle anderen Wissenschaftler, die sich mit dem Coronavirus und seiner Bekämpfung befassen, unfähig? Treten die Politiker in ihre Fußstapfen? Diese Fragen stellen sich nicht nur Coronaleugner und Verschwörungstheoretiker, sondern mittlerweile eine Vielzahl vernünftiger Menschen. Sie sehen und hören verschiedene, zumindest nicht deckungsgleiche Aussagen der Wissenschaftler und erleben Politiker, die unterschiedliche Maßnahmen zur Coronabekämpfung vorschlagen.
Der Glaube an die Erklärungskraft der Wissenschaft schwindet – vermutlich u. a. deshalb, weil sie von einigen Menschen viel zu hoch eingeschätzt wird. Das wäre das gleiche Phänomen, wie enttäuschte Liebe in Ablehnung umschlagen kann. An die Stelle von Erklärungen setzen Coronaleugner und ein Teil der Impfgegner ein absurdes Theater. Es lässt sich für den Betrachter mit normalem Menschenverstand noch weniger erklären als die Coronapandemie, ihre Wellen und ihre Bekämpfung. Die Sozialpsychologie stößt bei der Erläuterung der Taten und der Welle von Unsinn der Coronaleugner genauso auf Schwierigkeiten wie die Medizin bei der Erklärung der Coronawellen, die im Übrigen m. E. Teile einer Dauerwelle sind.
Man sollte die Erkenntniskraft der Wissenschaft nicht über-, aber auch nicht unterschätzen. Da Wissenschaftler, die verantwortungsbewusst und der Wahrheit verpflichtet sind, dies wissen, bleiben sie gegenüber eigenen Erkenntnissen skeptisch und tun alles, um sie immer wieder zu prüfen und ggbfs. zu korrigieren. Wie sehr man in der Wissenschaft bereit ist, sich zu korrigieren, sieht man daran, dass in der Wissenschaftslogik eine These dann für die Forschung als besonders gut gilt, wenn sie prinzipiell widerlegbar ist. (Das etwas skurrile Beispiel eines Hochschullehrers, der sich mit Wissenschaftslogik befasste: Die Aussage, der Mond bestehe aus weißem Käse, sei so lange schlecht gewesen, wie sie nicht widerlegbar gewesen sei. Seit man auf den Mond fliegen könne, sei sie wissenschaftslogisch gut, da widerlegbar.) Die Grundsätze der Wissenschaftslogik verdeutlichen die Bereitschaft der Wissenschaftler, ihre Erkenntnisse in Zweifel zu ziehen, um sie zu verbessern.
Ein Beispiel, wie vielschichtig eine schlicht erscheinende Realität sein kann. Wenn man eine glatte Eisenkugel mit bekanntem Gewicht von einem Haus mit bekannter Höhe fallen lässt, kann man sehr genau berechnen, wann sie unten aufschlägt. Nimmt man einen Bogen Papier von demselben Gewicht und lässt ihn aus derselben Höhe fallen, kann man nicht exakt berechnen, wann er unten ankommt. Selbst wenn man alle Kräfte, die aufs Papier einwirken, kennte, ließe sich nicht exakt berechnen, wann der Bogen unten ist. Der Grund hierfür ist einfach und zugleich hochkomplex. Man weiß nicht, wann und in welchem Maße diese Kräfte zusammenspielen. Dasselbe könnte für die Coronapandemie gelten. Man kennt viele, vielleicht sogar alle Kräfte, die eine Rolle spielen, man weiß aber nicht genau, wann und wie sie einander beeinflussen.
Deshalb muss man bei der Bekämpfung der Pandemie die Flinte nicht ins Korn werfen. Auch wenn das Ganze (noch) nicht völlig erklärbar ist, werden wir mit jeder Erkenntnis und Wissenskorrektur etwas schlauer, bringen etwas mehr Licht ins Dunkle. Deshalb sollten wir nicht zu sehr auf Wissenschaftler und Politiker schimpfen, die gemäß jeweiliger Plausibilität und aktuellem Wissensstand Diagnosen und Maßnahmen vorschlagen bzw. entscheiden. Ich glaube nicht, dass wir alles besser machen könnten. Ich auf jeden Fall nicht.
Text:UM