Rajasthan – märchenhaftes Indien
2. Februar 2022Dachte man früher an unsäglichen Prunk und Reichtum Indiens, so fiel der Blick in erster Linie auf Rajasthan. Dieser Bundestaat Indiens erstreckt sich im Westen des Landes über ein Gebiet von der ungefähren Größe Deutschlands. Rajasthan setzt sich zusammen aus einer Vielzahl ehemaliger Herrschaftsgebiete von Maharadschas, Radschas und anderen fürs Volk Gott ähnlichen Fürsten. Ihnen allen gemeinsam waren Streitlust und Prunksucht. Beides hat Ausdruck gefunden in riesigen Palastburgen und protzigem Auftreten. Die Paläste übertrafen einander an Ausstattung. Die Fürsten schmückten sich so mit Gold und Edelsteinen, dass ein Tannenbaum unter dieser Last zusammengebrochen wäre. Dieser Prunk und Protz hat für den Reisenden den Vorteil, dass er viel sehen und bestaunen kann.
In Delhi treffen islamische Prägung der Moguln, Eroberer in früher Neuzeit aus Afghanistan, und die Jahrtausende alte Hauptreligion Indiens, der Hinduismus, aufeinander. Es gibt dort viel zu sehen: das im indo-englischen Stil erbaute Regierungviertel mit Blick auf die Prachtstraße Rajpath und den Triumphbogen Gate of India, die größte Moschee Indiens, Jama Masjid, die geschäftigen Gassen der Altstadt mit Menschengedränge, Rikschas, Garküchen, Geschäften und Handwerkern. Am Rande der Stadt erhebt sich das kunstvolle und pompöse Grabmahl des Mogulherrschers Humayun (Unesco Welterbe).
Rajasthan und die Stadt Jaipur sind schnell erreicht. Der ganze Ort wurde im 19. Jahrhundert zu Ehren von Queen Victorias Ehemann Albert rosa angemalt. Diesen Anstrich hat man beibehalten. In Jaipur hat das riesige Observatorium Jantar Mantar (Weltkulturerbe) schon vor Jahrhunderten genaueste astronomische Berechnungen gestattet. Der bekannte Palast der Winde an der Hauptstraße besteht nur aus einer Fassade. Durch ihre Fenster konnten die Frauen des Maharadschas das Leben des gemeinen Volks auf der Straße beobachten. Besonders beeindruckend ist ein abendlicher Besuch im Govind-dev-ji-Tempel. Hier wird die Statue des Gottes Shiwa enthüllt. Eine vermutlich zu Tausenden zählende Menge versammelt sich dicht gedrängt bei Trompetenschall und Gongs, um einen Blick auf das Abbild zu erhalten. Diese friedlich entrückte, spirituelle Verzückung haftet im Gedächtnis. – In Nähe der rosa Stadt thront die gewaltige Festung Amber (Weltkulturerbe) auf einem Berg. Im Inneren erweist sie sich als opulenter Palast mit Garten und prunkvollen Sälen.
Weiter westlich erreicht man Bikaner. Die Stadt liegt in der Wüste Thar. Die Wüste dehnt sich bis Pakistan aus. Bei Bikaner ist sie landwirtschaftlich nutzbar, da sie vermutlich infolge der Klimaerwärmung hier mehr Regen als früher erhält. Bikaner war einst sehr reich. Dies drückt sich in dem protzigen Palast des Radscha Rai Singh aus. Spiegelzimmer, Mondpalast, Blumenpalast, üppig bunt ausgestattete Räume sind für unseren Geschmack kitschig, aber beeindruckend.
Wenn man glaubt, man habe den aufwändigsten Palast gesehen, wird man in der Wüstenstadt Jaisalmer eines Besseren belehrt. Hier bedeckt eine Anlage eine ausgedehnte Hügelkuppe. Steht man am Fuß des vielstöckigen Burgpalastes, wundert man sich, dass die gewaltigen Mauern nicht ins Tal auf die Stadt abrutschen. Das Innere entpuppt sich als eigene Ortschaft mit Marktplatz, Tempeln, Häusern, Wällen und Schloss. In der Unterstadt faszinieren buntes und lautes Treiben aus Autos, Karren, Händlern sowie Kühen. Da sie im Hinduismus als heilig gelten, stehen und liegen sie überall ungestört. Will man den chaotischen Verkehr fotografieren, stellt man sich am besten hinter eine Kuh. Hier ist man sicher. – Im See Gadi Sagar scheinen kleine Paläste auf der Wasseroberfläche zu schwimmen. Sie ruhen auf künstlichen Inseln. Insbesondere bei Vollmond ein märchenhaftes Bild.
Da es in Rajasthan vermutlich mehr Paläste gibt als am Rhein Burgen, sollen einige hier zusammengefasst werden. Vom Fort Mehrangarh blickt man auf die blaue Stadt Jodhpur. In Ranakpur wird man vom Tempel der Religionsgemeinschaft der Jaina angelockt: eine Sinfonie in weißem Marmor mit 1444 verzierten Säulen. In Udaipur versetzt der Stadtpalast ins Staunen. Regelrecht mystisch mutet ein Palast mitten im See an. In Bundi zeigt ein riesiger Stufenbrunnen, wie sinnvoll man vor dem englischen Einfluss in Indien mit Wasser umging. Der monumentale Garhpalast dort verfällt zwar langsam, weist jedoch noch viele interessante Fresken mit Darstellungen des Ramayanaepos auf.
Eine Unterbrechung in der Kette von Palästen und Städten bildet das ehemalige Jagdrevier eines Maharadschas, der Nationalpark von Rantambore. Er ist bekannt für seine Tigerpopulation. Zunächst erblickt man vom offenen Wagen aus im Wald nur Affen, Vögel und Sambarhirsche. Bevor die Enttäuschung zu groß wird, zeigt sich eine Tigerin im dichten Gras an einem See.
Eine weitere Überraschung wartet im Nirgendwo. Weitab von Orten hat der Großmogul Akbar im 16. Jahrhundert die Palaststadt Fatehpur Sikri (Weltkulturerbe) errichten lassen. Sie wurde bereits nach einigen Jahren verlassen. Man sollte für Fatehpur Sikri mit großer Moschee einen Tag einplanen, so weitläufig ist die Anlage.
Auf dem Rückweg nach Delhi macht man Station in Agra. Dort lockt das Grabmal Itimad-ud-Daula mit ausgewogenen Proportionen und kunstvollen Fresken. Das Rote Fort (Welterbe) am Fluss Yamuna wird von einer 2,5 km langen Mauer umgeben. Sie dokumentiert die Ausmaße dieser Festung aus dem 16. Jahrhundert. Höhepunkt des Besuchs in Agra, wenn nicht in ganz Rajasthan ist natürlich das Taj Mahal (Welterbe) am anderen Ufer der Yamuna. Shah Jahan ließ es als Grabmal für seine Lieblingfrau Mumtaz errichten. Daraus entstand ein Traum in Weiß aus Marmor und Edelsteinintarsien. Shah Jahan wollte gegenüber für sich ein gleiches Grabmal aus schwarzem Marmot bauen lassen. Er wurde vorher von seinem Sohn Aurangzeb, dem letzten bedeutenden Mogulherrscher, gestürzt und in einem Turm des Roten Forts eingesperrt. Von dort aus konnte er Jahre lang bis zu seinem Tod auf das Grabmal seiner geliebten Mumtaz blicken und um sie trauern. – Die Wirklichkeit schreibt manchmal poetischere Geschichten als ein Liebesgedicht.
Text/Fotos: UM