Gedanken zur Zeit

5. Januar 2022

Sögel – Neulich erhielt ich per Mail ein Filmchen, das eine angeblich 101jährige Chinesin zeigte, die „noch angeblich“ Auto fuhr. Um den Wagen hüpften junge Frauen, die irgendwelche Pflanzen in ihren Händen hielten. Das Filmchen entstammte dem Dienst tictoc und war an dümmlicher Flachheit nicht zu unterbieten. In diesem Falle bietet tictoc beides: Läppische Nachricht und Fälschung. Auch wenn dieses Filmchen ein Scherz im privaten Bereich auf Kindergartenniveau gewesen sein mag, frage ich mich, warum dieser Scherz einer breiten Öffentlichkeit geboten wird. Von einem sozialen Mediendienst erwarte ich nicht viel. Was mich aber fast erschüttert hat, ist, dass das Filmchen mir ein intelligenter und gebildeter Bekannter zugeschickt hat und es lustig sowie bemerkenswert fand.

Wenn ich dieses Ereignis und einige andere Elemente der sinnarmen Spaßgesellschaft bedenke, frage ich mich, ob ich auf einer vergehenden oder schon beendeten Kulturstufe stehen geblieben bin.

In Anlehnung an die bereits verstorbenen Kommunikationswissenschaftler McLuhan, Postman und andere, die sich in Vor-Internet-Zeiten mit Fernsehen und Radio befasst haben, bildet sich mit dem Erfolg neuer Medien eine neue Kulturstufe heraus. Vor Einführung der Schrift wurden Wissen und kulturelle Inhalte mit Bildern, Tänzen, Gesängen und Gesprächen weitergereicht. Bänkelsänger, Geschichtenerzähler am abendlichen Lagerfeuer, aber auch Eltern, die ihren kleinen Kindern Märchen vortragen, sind Beispiele hierfür. Mit der Schrift wurden solche Erzählungen für viele sowie die Nachwelt verfügbar. Im alten Griechenland konnten so philosophische Gedanken weitergegeben werden, die heute noch Teile unserer Kultur sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden für viele verfügbar. Der Buchdruck beschleunigte die Verbreitung von Meinungen und Wissen schneller sowie mit wesentlich größerer Reichweite und bildete den Motor sozialer Veränderungen, wie z. B. der Reformation. Mit Radio und Fernsehen gestaltete sich die Informationsübermittlung noch schneller, weiter reichend und vor allem eindrücklicher. (Nicht grundlos haben die Nazis den Volksempfänger so gefördert.) Das Fernsehen verfügt teils über fast hypnotische Wirkung. Was dort mit der Macht der Bilder gezeigt wird, muss ja stimmen!

McLuhan vertrat sogar die Meinung, das Medium sei die Botschaft. Postman befürchtete fatale soziale Änderungen infolge des Fernsehens und vermutete sarkastisch, das Fernsehen sei nicht für Idioten geschaffen worden, es schaffe aber Idioten. Mein Verdacht erhärtet sich immer mehr, dass Postmans Aussage noch mehr aufs Internet und vor allem die sozialen Medien zutrifft. Gefälschte Nachrichten (fake news) und sogen. alternative Wirklichkeiten oder Wahrheiten sind spätestens seit Trump offenkundig salonfähig. In totaler Verflachung werden wir mit banalen Informationen überschüttet (siehe das o. g. Filmchen). Wichtige Informationen gehen unter im Meer der Belanglosigkeiten. Alternative Realitäten und Fälschungen werden ebenso akzeptiert wie Wahrheiten. Letztere sind oft kaum noch als solche zu erkennen. Vernünftiger Zweifel, den man immer haben sollte, wird als unkritischer Zweifel auf die Wahrheit übertragen.

Freie Medien sind Kinder der Aufklärung, aber Teile der Medienwelt fallen hinter die Aufklärung zurück, sind sogar antiaufklärerisch. Aufklärung verlangt den Mut zur Benutzung des eigenen Verstandes, der gefüllt sein sollte mit Inhalten über die Realität. Aufklärung verlangt, selbst zu denken. Ein Teil der Medienkonsumenten lässt von den Medien denken! – Ich frage mich, ob wir als neue Kulturstufe in die Zeit des Fremddenkens anstelle des Selbstdenkens kommen oder bereits in ihr sind. Damit fielen wir in die Jahre vor der Aufklärung zurück, als Obrigkeit und Kirche fürs Volk dachten. Sollte dieses „Denkmonopol“  nun bei den Medien, insbesondere den elektronischen liegen und ihnen von vielen zugestanden werden? Die klassische Definition für Aufklärung von Immanuell Kant lautet, sie sei der Versuch des Menschen, sich aus selbst verschuldeter Unmündigkeit zu befreien. Ist Unmündigkeit so bequem, dass wir uns einigen Medien ausliefern? Oder bin ich nicht mehr in der Lage, die Kulturstufe des Internets zu erfassen, um mich ihr genussvoll hinzugeben?

Text: UM

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