Brief von Madame Catharine Allouche
5. Januar 2022Sögel – Die Tochter des KZ Überlebenden und jüdischen Sögeler Bürgers Georg Frank, Madame Catharine Allouche hat einen Brief anlässlich der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht in französischer Sprache geschrieben.
Meine liebe Irmgard,
mit einigen Worten möchte ich dir auf den nächsten Seiten mein Empfinden beschreiben, das ich verspüre.
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass der Inhalt meines Schreibens dir gefällt und mehr noch, dass du meine Handschrift entziffern kannst!
Ich freue mich, dich mit deiner lieben Schwester in Colmar begrüßen zu können und sende dir herzliche Grüße.
Catherine
Sehr geehrte Damen und Herren, Colmar, der 1. November 2021
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter
der Samtgemeinde Sögel,
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Meine sehr, sehr liebe Irmgard,
Ich wende mich mit großer Traurigkeit an Sie. Ich werde an diesem wichtigen Tag des Gedenkens nicht persönlich anwesend sein, aber ich werde mit ganzem Herzen bei Ihnen sein und den ganzen Tag an Sie denken.
Die Reise zu diesem Ort, dessen Name seit so langer Zeit in meinen Ohren hallt, erschreckt mich, sowohl die Reisedauer mit dem Auto als auch mit dem Flugzeug (Anschlussschwierigkeiten) oder auch mit dem Zug (oftmaliges Umsteigen und nur kurze Umsteigzeiten).
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich diese Reise im nächsten Frühjahr oder Sommer bei besseren Bedingungen antreten kann, um in die „HEIMAT“ meines geliebten Vaters zurückzukehren und meiner Familie an deren Gräbern zu gedenken, welche mit großer Sorgfalt von Ihrer Gemeinde gepflegt und instandgehalten werden.
Mein Vater Georg Frank, geboren am 19.10.1912, liebte es, von seiner Heimatstadt zu sprechen, von seinem tagtäglichen Leben in dieser schönen kleinen Stadt der Heidekrautfelder und umgeben von weiten Wiesen, auf denen die Herden meiner Großeltern trieben.
Unseligerweise wurde er sowie seine ganze Familie (Eltern, Großeltern, Brüder und Schwestern…) gefangen genommen und in Vernichtungs- und Arbeitslager gebracht.
Trotz des Leids, dass er in diesen Jahren im Konzentrationslager erfuhr, hegte mein Vater immer positive Gefühle für seine Heimatstadt.
Nachdem er 27 seiner engsten Familienmitglieder verloren hatte und bei seiner Rückkehr nur eine seiner Schwestern und seinen jüngsten Bruder lebend wiedersah, blieb ihm nur, um seine geliebte Familie zu trauern.
Bei seiner Rückkehr wog mein Vater nicht mehr als 37 Kilogramm, litt an einer schweren Infektion und hatte alle Zähne verloren. Er verbrachte lange Zeit im Krankenhaus, um seine Kräfte und auch seine Beine zurückzugewinnen.
Mein Vater hat sich niemals über die ihm zugefügte Misshandlung beschwert und sprach nur sehr, sehr wenig über das, was er erlebt hatte, da er mir diese Grauenhaftigkeiten ersparen wollte.
Ein einziges Mal sagte er auf seinem Sterbebett, nachdem ich ihn fragte: „Papa, hast du schon einmal mehr gelitten als heute?“, zu mir: „Ja, in Auschwitz.“
Ich erahnte also, dass diese Momente, die er dort erlebt hat, unerträglich gewesen sein müssen und weit über das hinausgehen, was ein Mensch sich vorstellen kann.
Meiner Meinung nach darf die Vergangenheit nicht vergessen werden, weil sie dazu beiträgt, auf das zu reagieren, was in der Gegenwart, die wir Tag für Tag leben, passiert.
Sie soll uns ebenfalls helfen, die Zukunft unserer Kinder würdevoll und angemessen vorzubereiten.
Unser Kampf muss jetzt und mehr als jemals zuvor ein Kampf gegen alle Plagen sein, die da wären: Hass, Antisemitismus und Rassismus.
Ich freue mich darüber, zu sehen, dass Deutschland als erstes Land der Europäischen Union mit Israel zusammenarbeitet (in der Wichtigkeit ihrer Handlungen im Bereich der Wirtschaft, der Industrie, des Tourismus, der Medizin, …).
Ein großes Lob für diese gute Arbeit und diese große Anerkennung!
Ich habe noch viele Anekdoten, die ich Ihnen übermitteln und mitteilen möchte, aber ich hoffe aufrichtig, dies bald mündlich tun zu können, wenn ich meine – so wie ich sie nenne – Pilgerfahrt nach Sögel in wohltuender Begleitung antrete.
Ich möchte mit zwei Worten abschließen, die Sie sicher bereits gehört haben, aber die man niemals genug sagt: NIE WIEDER.
Kein Hass, keine Unmenschlichkeit mehr, dafür Freude und Glück, die wir gemeinsam teilen, alle vereint in einer Welt, in der der Frieden herrscht.
Mein letztes Wort ist für Irmgard, zu der ich eine ganz besondere Beziehung habe, denn sie hat es mir ermöglicht, wieder eine Verbindung zu der Vergangenheit meines Vaters und meiner ganzen Familie väterlicherseits aufzunehmen. Ich bin ihr dafür sehr dankbar. Sie ist eine tolle Frau, engagiert, sehr intelligent, zu jeder Zeit erreichbar, großmütig und mit viel Sympathie.
Für mich ist sie eine gute Freundin geworden, die ich für alle ihre Qualitäten schätze und ich freue mich, sie in einigen Wochen bei mir begrüßen zu dürfen, um ihr Colmar zu zeigen, die nahegelegene elsässische Region und ihre großartigen Weihnachtsmärkte.
Ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen, an diesem wichtigen Tag, der mich sehr berührt, nicht bei Ihnen zu sein.
Ich bedanke mich für Ihre Einladung und für Ihre Aufmerksamkeit, die Sie mir und meiner verstorbenen Familie haben zu Teil werden lassen.
Für Fragen und Informationen, die Ihnen nützlich sein könnten, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen für Ihre große Freundlichkeit und für die ganze Mühe, die Sie sich gegeben haben, um es mir zu ermöglichen, die Vergangenheit meiner geliebten Eltern wieder aufleben zu lassen.
Bis ganz bald mit Gottes Hilfe
Catherine Frank-Allouche
Einen ausführlichen Bericht über das Schicksal der Familie Frank aus dem Heft 12/2020 können Sie nachstehend aufrufen: