Achtsamkeit und Zeit: Der Taxifahrer und die alte Dame

1. September 2020

Achtsamkeit und Zeit –

Eine Erfahrung über Zeit, Geduld und den Zauber der kleinen Momente.

Nehmen Sie sich Zeit für die Geschichte eines Taxifahrers.

Ich wurde zu einer Adresse bestellt und wie gewöhnlich hupte ich, als ich ankam. Doch kein Fahrgast erschien. Ich hupte erneut. Nichts. Noch einmal. Nichts. Meine Schicht war fast zu Ende, es sollte meine letzte Fahrt sein. Es wäre leicht gewesen, einfach wieder wegzufahren. Ich entschied mich aber dagegen, parkte den Wagen und ging zur Haustür. Kaum hatte ich geklopft, hörte ich eine alte, gebrechliche Stimme sagen: „Bitte, einen Augenblick noch!“.

Durch die Tür hörte ich, dass offensichtlich etwas über den Hausboden geschleift wurde. Es verging eine Weile, bis sich endlich die Tür öffnete. Vor mir stand eine kleine Dame, bestimmt 90 Jahre alt. Sie trug ein mit Blümchen bedrucktes Kleid und einen dieser Pillbox-Hüte mit Schleier, die man früher getragen hat. Ihre gesamte Erscheinung sah so aus, als wäre sie aus einem Film der 1940er Jahre. Da die Tür offen war, konnte ich nun auch in die Wohnung schauen. Die Wohnung sah aus, als hätte hier über Jahre niemand mehr gelebt. Alle Möbel waren mit Tüchern abgedeckt. Die Wände waren leer, die Wohnung war fast komplett leer – keinen Nippes.

„Bitte, junger Mann, tragen Sie mir meinen Koffer zum Wagen?“, bat sie und deutete auf einen kleinen Nylon-Koffer neben der Tür. Ich nahm den Koffer und packte ihn in den Kofferraum. Dann ging ich zurück zur alten Dame, um ihr beim Gang zum Auto ein wenig zu helfen. Sie nahm meinen Arm und wir gingen gemeinsam zum Auto. Sie bedankte sich für meine Hilfsbereitschaft. Es sei nicht der Rede wert, antwortete ich ihr. Ich behandele meine Fahrgäste schlicht genauso, wie ich auch meine Mutter behandeln würde! „Oh, Sie sind wirklich ein vorbildlicher junger Mann“, erwiderte sie.

Als die Dame in meinem Taxi Platz genommen hatte, gab sie mir die Adresse, gefolgt von der Frage, ob wir durch die Innenstadt fahren könnten.

„Nun, das ist aber nicht der kürzeste Weg, eigentlich sogar ein erheblicher Umweg“, gab ich zu bedenken.

„Oh, ich habe nichts dagegen“, sagte sie. „Ich bin nicht in Eile. Ich bin auf dem Weg in ein Hospiz.“

„Ein Hospiz?“, schoss es mir durch den Kopf. Dort werden doch sterbenskranke Menschen versorgt und beim Sterben begleitet. Ich schaute in den Rückspiegel und betrachtete die alte Dame noch einmal.

„Ich hinterlasse keine Familie“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort. „Der Arzt sagt, ich habe nicht mehr sehr lange zu leben.“

Ich schaltete das Taxameter aus. „Welchen Weg soll ich nehmen?“, fragte ich. Für die nächsten zwei Stunden fuhren wir einfach durch die Stadt. Sie zeigte mir das Hotel, in dem sie einst an der Rezeption gearbeitet hatte. Wir fuhren zu den unterschiedlichsten Orten. Sie zeigte das Haus, in dem sie und ihr verstorbener Mann gelebt hatten, als sie noch „ein junges, wildes Paar“ waren. Sie zeigte mir ein neues Möbelhaus, das früher „ein angesagter Schuppen“ zum Tanzen war. Als junges Mädchen habe sie dort oft das Tanzbein geschwungen.

An manchen Gebäuden und Straßen bat sie mich besonders langsam zu fahren. Sie sagte dann nichts. Sie schaute dann einfach nur aus dem Fenster und schien mit ihren Gedanken noch einmal auf eine Reise zu gehen.

„Ich bin müde“, sagte die alte Dame plötzlich. „Jetzt können wir zu meinem Ziel fahren.“ Schweigend fuhren wir zu der Adresse, die sie mir vor ein paar Stunden gegeben hatte. Das Hospiz hatte ich mir viel größer vorgestellt. Mit seiner Mini-Einfahrt wirkte es eher wie ein kleines freundliches Ferienhaus. Es stürmten jedoch sofort zwei Sanitäter aus dem Haus, die – kaum hatte ich den Wagen angehalten – die Fahrgasttüre öffneten. Sie schienen besorgt. Sie mussten schon sehr lange auf die Dame gewartet haben. Und während die alte Dame im Rollstuhl Platz nahm, trug ich ihren Koffer zum Eingang des Hospizes. „Wie viel bekommen Sie von mir für die Fahrt?“, fragte sie, während sie in ihrer Handtasche kramte. „Nichts“, sagte ich. „Aber Sie müssen doch Ihren Lebensunterhalt verdienen“, antwortete sie. „Es gibt noch andere Passagiere“, erwiderte ich mit einem Lächeln.

Und ohne lange drüber nachzudenken, umarmte ich sie. Sie hielt mich an sich. „Sie haben einer alten Frau auf ihren letzten Metern noch ein klein wenig Freude und Glück geschenkt. Danke!“, sagte sie mit glasigen Augen zu mir. Ich drückte ihre Hand und ging bewegt. Hinter mir schloss sich die Tür des Hospizes. Es klang für mich wie der Abschluss eines Lebens. Ich fuhr einfach ziellos durch die Straßen – völlig versunken in meinen Gedanken. Ich nahm keine neuen Fahrgäste an. Ich wollte weder reden noch jemanden sehen. Was wäre gewesen, wenn die Frau an einen unfreundlichen und mies gelaunten Fahrer geraten wäre, der nur schnell seine Schicht hätte beenden wollen? Was wäre, wenn ich die Fahrt nicht angenommen hätte? Was, wenn ich nach dem ersten Hupen einfach weggefahren wäre? Wenn ich an diese Fahrt zurückdenke, weiß ich, dass ich noch niemals etwas Wichtigeres im Leben getan habe.

Die Qualität unseres Lebens bestimmt sich aus seinen gelebten Momenten. Dazu braucht es, sich Zeit und Achtsamkeit im Hier und Jetzt zu nehmen. In unserem hektischen Leben haben wir nie Zeit und legen Wert auf die großen, bombastischen Ereignisse. Dabei sind es so oft die kleinen Momente, die kleinen Gesten, die die Kraft haben, uns tief im Inneren zu berühren – wenn wir es nur zulassen. Deshalb sollten wir uns immer wieder in Entschleunigung und Geduld üben – und nicht sofort hupen. 

Klaus Schäffner:

Diese Geschichte haben wir von einer Nachbarin bekommen, mit der wir gemeinsam eine Familie mit 5 Kindern betreuen – vorlesen, spielen, malen, und lernen.

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