„[…] Und wütet der swarze Dod oder die Pest allhier […]“. Ein kurzer historischer Blick auf Pandemien und Epidemien und im Hümmling

1. Mai 2020

Hümmling – Heute ist der Corona-Virus und die damit verbundene Lungenkrankheit Covid 19 in aller Munde. Anders als der Verfasser noch vor Wochen dachte (und öffentlich ausgesprochen hat), ist die damit verbundene Epidemie keineswegs eine kleine Episode ohne größere Auswirkungen für die Menschheit, wie etwa die Sars-Epidemie. Wir merken in diesen Tagen, dass unsere Gesellschaft und Wirtschaft und nicht zuletzt die Menschen von der sich rasch ausbreitenden Krankheit im Selbstgefühl und in der Substanz stark getroffen werden. Tiefe Verunsicherung, ja sogar Existenzangst macht sich bei fast allen von uns breit. Es wird wohl Jahre dauern, bis wir die Folgen der Corona-Pandemie überwunden haben werden. Die Hoffnung geht dahin, dass die Opferzahl durch eine große Selbstdisziplin der Menschen und die Erfolge der Forschung bei ihrer Suche nach Impfstoffen am Ende eher gering bleibt, und es keineswegs die befürchteten 500.000 Opfer in Deutschland werden, von denen derzeit oft gesprochen wird.

Dass eine solche weltumspannende Epidemie keinesfalls zum ersten Mal die Menschen im Hümmling bedroht, sondern auch in anderen Zeiten eine mehr als reale Bedrohung darstellte, soll im Folgenden erläutert werden. Dabei ist ein Streifzug durch fast 600 Jahre emsländischer Geschichte von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert zu bewältigen. Vorweg sei betont, dass hiermit nur die wichtigsten Epidemie-Ereignisse angesprochen werden und die Untersuchungen auf diesem Felde wahrhaft noch ganz am Anfang stehen.

Mit dem Stichwort „Pest“ oder „Schwarzer Tod“ war für die Bevölkerung des Hümmlings seit den Tagen ihres ersten, für sie greifbaren Erscheinens in der Mitte des 14. Jahrhunderts bis weit in die Moderne hinein stets das nackte Grauen verbunden. Innerhalb von nur vier Jahren überzog diese Seuche, die 1347 – aus Zentralasien kommend – über die Schwarzmeerregion die Mittelmeerhäfen Westeuropas erreichte, den ganzen Kontinent. Sie äußerte sich bei den Erkrankten durch hohes Fieber, merkwürdige Beulen und Flecken am ganzen Körper, starke Atemnot und quälenden Husten. Das Erschreckende an der Krankheit war nicht nur das Elend der Infizierten, sondern die mit ihrer Verbreitung verbundene überwältigende Sterblichkeit.

Oben: Begräbnis von Opfern der Beulenpest in Tournai. Teil einer Miniatur aus den Chroniken des Abtes Gilles Li Muisis (1272–1352), Bibliothèque royale de Belgique.

Links: Die durch das Bakterium Yersinia pestis ausgelöste Pest ist eine Krankheit, die in erster Linie Nager befällt. Durch den Stich des Rattenflohs wird ein neuer Wirt infiziert, z.B. auch ein Mensch. Der hier abgebildete Menschenfloh kommt als Überträger der Pest in Frage. (Bild: LWL/S. Leenen)

In Florenz, das 1348 heimgesucht wurde, beobachtete ein Zeitgenosse, der berühmte Literat Boccaccio (1313 – 1375) folgendes:

„So konnte, wer – zumal am Morgen – durch die Stadt gegangen wäre, unzählige Leichen liegen sehen. Dann ließen sie Bahren kommen oder legten, wenn es an diesen fehlte, ihre Toten auf ein bloßes Brett. Auch geschah es, dass auf einer Bahre zwei oder drei davongetragen wurden, und nicht einmal, sondern viele Male hätte man zählen können, wo dieselbe Bahre die Leichen des Mannes und der Frau oder zweier und dreier Brüder und des Vaters und seines Kindes trug.“

45–50 % der europäischen Bevölkerung starben nach aktuellen Schätzungen in dieser Zeit während einer Zeitspanne von vier Jahren. Man kann sich ausmalen, welche Folgen im sozialen Zusammenleben und psychologischen Nebenwirkungen sich daraus ergeben mussten. Der bereits erwähnte Boccaccio schreibt:

„Wir wollen darüber schweigen, dass ein Bürger den anderen mied, dass fast kein Nachbar für den anderen sorgte und sich selbst Verwandte gar nicht oder nur selten und dann nur von weitem sahen. Die fürchterliche Heimsuchung hatte eine solche Verwirrung in den Herzen der Männer und Frauen gestiftet, dass ein Bruder den anderen, der Onkel den Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Ehemann verließ; ja, was noch merkwürdiger und schier unglaublich scheint: Vater und Mutter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehen und sie zu pflegen – als ob sie nicht die ihren wären (…). Viele starben, die, wenn man sich um sie gekümmert hätte, wohl wieder genesen wären. Aber wegen des Fehlens an ordentlicher, für den Kranken nötiger Pflege und wegen der Macht der Pest war die Zahl derer, die Tag und Nacht starben, so groß, dass es Schaudern erregte, davon zu hören, geschweige denn es mitzuerleben.“

In welchem Umfang der Hümmling in der Zeit um 1350, als die Welle Niedersachsen erfasste, von der Pest betroffen worden ist und ob und wie sehr sie auch hier den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstörte, lässt sich nicht sagen. Es gibt keine direkt auf die Region bezogene Quelle.  Der Chronist Eggerik Benninga (1492 – 1562) berichtet über 150 Jahre später aber in Bezug auf seine Heimat, dass

„in Ostfriesland ene feningige pestientie gewesen, da vele dusent menschen olt und juck hastich hen gesturven, dat do to der tidt nemande kunde gedenken, dat sonanige feninige pestilentie in de Freeslande hadde gewesen.“ (Chronica der Friesen, bearb. von Louis Hahn, S. 476)

Für das Emsland behauptet Johannes Bernhard Diepenbrock in seiner 1838 erschienen „Geschichte des vormaligen münsterischen Amtes Meppen“, die Krankheit habe in Meppen sämtliche Mitglieder der Kaufmannschaft hinweggerafft und auch dem Ackerbau viele arbeitende Hände entzogen. Viel Land sei für lange Zweit unbebaut und wüst liegen geblieben und zwischen Bunde und Weener seien an die 7.000 Menschen der Pest erlegen.

Wir können nicht mehr ermessen, wie viel Wahres in diesen Angaben steckt. Fest steht aber, dass die Krankheit seither auch im Hümmling unglaubliche Angst und Panik verbreitete. Das Bewusstsein, täglich, ja stündlich dem Tod ins Auge zu schauen, war nun tief im Wesen der Menschen eingewurzelt. Es verging kein Jahrzehnt, in dem die Epidemie sich nicht wieder zurückmeldete. So hören wir für 1356 von einem zweiten Sterben in Mitteleuropa, insbesondere in Franken, 1362 von deinem dritten und so weiter, bis man zu zählen aufhörte. Die Ausmaße freilich, waren nun weniger verheerend und nicht mehr flächendeckend. Diepenbrock erwähnt für das Emsland einen zweiten Pestzug um 1400, dann wieder einen für 1575, wo explizit das nördliche Emsland betroffen ist. 1578/79 und 1582 grassierte die Pest in Haselünne und Meppen (wo deswegen das Hölting-Schützenfest ausfiel). Inwieweit bzw. wie stark der Hümmling betroffen war, kann wiederum nicht gesagt werden. Fest steht nur, dass die Gegend (deswegen?) um 1530 mit insg. nur rd. 2000 Menschen außerordentlich dünn besiedelt gewesen ist (heute 45.000 Einwohner!).

Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges und damit verbundene, häufige Durchzüge und Stationierungen fremder Truppen wie der Spanier, Dänen, Österreicher und Schweden sowie eine schlechte Versorgungslage sorgten hier dann für neue Pestwellen und andere Krankheiten wie Typhus, Ruhr und Syphilis.  1635/36 hört man aus der Grafschaft Bentheim, dass „die pestilenz daselbst sehr stark grassiert“ und „in de Tydt fast an de duisent Menschen, jung und aldt, alhir an der Pesten gestorven sindt“.  Ähnliches ereignete sich im Kirchspiel Ankum. Um 1656 musste Haselünne die Krankheit über sich ergehen lassen. Scheunen vor den Toren der Stadt wurden als Quarantänestationen eingerichtet, allerdings nur für die armen Leute, und keiner durfte in die Stadt, wenn er aus einem pestverseuchten Gebiet kam.

Der Hümmling war in diesen Tagen vielleicht wieder nicht betroffen. Umso mehr aber wurde er von der großen Pestwelle erfasst, die im Sommer und Herbst des Jahres 1666 mitten im Münsterisch-holländischen Krieg von den Niederlanden her auf ihn zurollte. Es war die „contagieuse Pestilenz“, die Beulenpest, die die Münsterischen Truppen, welche auf ihrem Rückmarsch aus Holland in Meppen und in andere an der Ems gelegenen Dörfern einquartiert wurden, mit einschleppten. Die Seuche verbreitete sich in Windeseile, so dass binnen weniger Monate in Meppen 800 Tote zu beklagen waren.

Holger Lemmermann führt auf der Basis der im Titel schon angeführten Behnes-Chronik und der seit 1662 im Kirchspiel Sögel eingeführten Sterberegister aus:

„Auf dem Hümmling ereigneten sich die ersten Todesfälle, bei denen die „Pest“ als Ursache diagnostiziert wurde, in Werpeloh. Hier starben am 1. bzw. 3. Juni Taleke und Christina Claeßens an der „peste in Frisia“. […]. Am 27. Juni erlag Steineke Hülsmann in Spahn der Pest, er sollte nicht der einzige bleiben. In den folgenden zwei Monaten raffte die Seuche nicht weniger als 10 weitere Bewohner dieses kleinen Dorfes dahin. Alle waren Mitglieder der beiden Beerbten-Familien Voß (7) und Backmann (3). Man versteht, dass dieses grausame Geschehen die Überlebenden veranlasste, aus Dankbarkeit für die Errettung ein Kreuz, das heute noch vorhandene „Spahner Pestkreuz“, zu errichten.

Weitere, auf die Pest zurückzuführende Todesfälle im Kirchspiel Sögel verzeichnete man in Werpeloh (1) und Sprakel (4). Dass diese insgesamt 18 Pesttoten, die in den Kirchenbüchern als solche festgehalten sind, nicht alle waren, beweist die Chronik der Familie Behnes, die den am 24.7. 1666 verstorbenen Hermann Jürgens (Behnes) als Opfer der Pest bezeichnet, während die Sterberegister dieser Tatsache keine Erwähnung tun. […]. “

Der Blick auf die Einträge macht deutlich, dass insbesondere Spahn, wo 11 Personen verstarben, hart getroffen wurde, so hart, dass man hier später behauptete, nur elf Menschen überhaupt hätten die Seuche überlebt. Bei damals rd. 70 Einwohnern kommen wir hier tatsächlich auf eine Sterbequote von etwas über 15 Prozent!

Überliefert wird für Spahn zudem, dass sich in den Tagen der Pest „milchiger Nebel mit stinkendem Geruch „tagelang über den kleinen Ort gelegt habe. Menschen wurden krank und starben, bis ein beherzter Mann auf dem Brink ein Kreuz mit der Inschrift „Herr Jesu Christ, wende ab alle Pestilenz, die so schreckliche Krankheit!“ aufstellte, um das sich die noch lebenden Dorfbewohner versammelten und den Himmel um Rettung anflehten. Der weiße Nebel verwandelte sich in eine schwarze Wolke, zog in Stevens‘ „Boomkamp“ und kroch dort in einen hohlen Eichenbaum. Man schlug daraufhin einen schweren Holzstöpsel in das Loch und bannte die Seuche. Ein kurz darauf aufgestelltes Pestkreuz erinnert an dieses angebliche Rettungsereignis und lange noch versammelte sich die Gemeinde hier jährlich zu einer Prozession und zu eiem gemeinsamen Gebet.

Wir wissen nicht, ob es auch im Kirchspiel Werlte Sterbefälle in Folge der Pest von 1666 gegeben hat, da die Sterbeeinträge im Kirchenbuch erst mit dem Jahr 1667 beginnen. Vermutlich ging hier – auch in Folge harter Quarantänemaßnahmen – alles glimpflich aus. Alles deutet darauf hin, dass nur vier Dörfer, Werpeloh, Sprakel, Spahn und wohl auch Sögel heimgesucht wurden.

In der Folgezeit blieb in den Menschen die Angst vor der Pest tief verwurzelt, allerdings rückten in den anschließenden Jahrhunderten andere Krankheiten weitaus stärker mehr in den Vordergrund.

Anzuführen sind die für die Neugeborenen und Kinder sehr gefährlichen Masern, der Scharlach, das um 1720 aufkommende „Picardsche Schweißfieber“ oder der im Sommer durch die Fliegen in den Wohnhäusern weit verbreitete Paratyphus.

Diese Krankheiten sorgten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gewiss auch im Hümmling für reiche Ernte. Danach standen sie aber eindeutig im Schatten einer anderen schweren Infektionskrankheit. In der Zeit zwischen 1773 und 1776 findet sich in dem Sterbeverzeichnis des Kirchspiels Werlte nämlich immer wieder, und zwar ausschließlich bei Kindern, der Hinweis „pustulis“ oder „pustulis extictus“, „Pocken“ oder „durch Pocken ausgelöscht“.

Die Pocken oder „Kindsblattern“ scheinen seit 1766, und zwar beginnend im eben erwähnten Werlte, wo in diesem und in dem folgenden Jahr insg. 28 Kinder starben, schwer gewütet zu haben. Seit 1767 treten in dem damals rd. 2400 Seelen umfassenden Kirchspiel auch Vrees (7 Kinder), Wehm (8) und Hüven (6) als besonders betroffene Orte hinzu. Danach beruhigte sich für wenige Jahre die Lage, bis im Jahre 1773 Werlte (21), Bockholte (9), Hüven (7), Lahn (7), Ostenwalde (6), Wehm (14!) und Wieste (8) voll ins Fadenkreuz der Krankheit gerieten. Zusammengerechnet gab es im bezeichneten Jahr 123 Tote, wovon insgesamt 75 Kinder (bis 14 J.) einen Anteil von 61 % ausmachten. Die Sterblichkeit lag hier nun bei rd. 5,5 %, während sie sich in den vier Jahren zuvor lediglich bei jeweils rund 2,2, % bewegte. Auffällig ist, dass der kleine, damals rd. 170 Einwohner zählende Ort Harrenstätte und das ebenfalls zum Kirchspiel Werlte gehörende Vrees damals noch weitgehend von den Pocken verschont blieben. Dann aber schnellten auch hier die Zahlen abrupt empor (Harrenstätte im Jahr 1779: 13 Kinder von insg. 15 Verstorbenen;  Vrees  i.J. 1780 17 Kinder bei insg. 21 Verstorbenen).

Kirchenbucheintrag am 12. Januar: obiit ex Werlte infans Abel Park Lambertus pustulis extictus extrema unctione munitus (Es starb aus Werlte das Kind Lambertus von Abel Park durch Pocken ausgelöscht, doch mit Nottaufe bewehrt“)

Im Kirchspiel Sögel (damals ca. 2300 Einwohner) blieb die Lage hingegen bis 1780 bemerkenswert ruhig. Die Zahl der Verstorbenen variierte gemäß den Kirchenbucheinträgen von St. Jacobus jährlich zwischen 40 – 80. 1781 aber schoss die Zahl auf 168 Todesfälle hoch (7 % der Gesamtbevölkerung!). Erschreckend dabei ist erneut, dass sich die Zahl der verstorbenen Kinder auf 92 belief! Die „Hotspots“ waren in diesem Jahr jedoch sehr ungleich im Kirchspiel verteilt. In Werpeloh (rd. 400 Einwohner) waren 38 Tote zu beklagen, in Wahn (ebenfalls rd. 400 Einwohner) sogar 43, wobei der Anteil der Kinder sich bei jeweils 28 belief, während sich andernorts, etwa in Sprakel, Klein Stavern oder Wippingen ein eher normales Bild abzeichnet.

In den Jahren darauf beruhte sich die Lage im Kirchspiel Sögel etwas und die Sterblichkeit pro Jahr sank (bis auf 1786/87, wo die Kurve auf 95 bzw. 84 hochschnellte), und zwar auf im Schnitt 50 – 70 Menschen. Im Jahr 1797 aber starben erneut 142 Personen, von denen 108(!) Kinder waren.

Anders als im Falle von Werlte und Umgebung, wo die Einträge eindeutig sind, wissen wir im Falle von Sögel und den umliegenden Bauernschaften nicht genau, ob die Pocken die alleinige Ursache für das massenhafte Sterben gerade der Kinder gewesen sind. Hervorzuheben gilt aber auch hier, dass die Todesfälle nicht über das ganze Jahr hinweg gleichmäßig verteilt waren, sondern die Kurve, wie im Kirchspiel Werlte einige Jahre zuvor häufiger geschehen, erst im Mai steil emporstieg und sich die Lage dann erst im Januar 1798 beruhigte. Allein Spahn, welches 1797 „nur“ 4 tote Kinder zu beklagen hatte, verzeichnete im Jahr 1798 noch 8 verstorbene Kinder bei insg. 13 Todesfällen.

Auch die Pocken blieben auf dem Hümmling nicht dauerhaft die dominante, die Kinder reihenweise dahinraffende Epidemie. Um 1800 begannen gezielte Pockenschutzimpfungen und bald galt die Impfpflicht. Unter den hochansteckenden Krankheiten wurde der Staffelstab nun an die Ruhr, die Cholera, die Diphtherie, die Tuberkulose und den Typhus weitergereicht. Sie feierten allesamt bei den vor Ort immer noch ungenügenden hygienischen Verhältnissen in den Behausungen mehr oder weniger frohe Urstände. Im Jahre 1889 starben z.B. in Wehm 8-10 Menschen am Typhus, 1985 in Bockholte 14 Kinder an Diphtheritis und 1917 in Vrees 40 Menschen an der Ruhr.

Im Herbst 1918, in der Schlussphase des 1. Weltkrieges, musste der Hümmling schließlich den Durchzug der „Spanischen Grippe“ erleben.  Diese Virus-Erkrankung umrundete 1918 binnen weniger Monate die gesamte Erde. Bis 1920 tötete sie mehr Menschen, als überhaupt im Ersten Weltkrieg starben. Die durch einen ungewöhnlich virulenten Abkömmling des Influenzavirus (Subtyp A/H1N1) verursachte Seuche, die 1918 plötzlich auftrat und bis 1920 weltweit wütete, raffte je nach verschiedenen Schätzungen 20 bis mehr als 100 Millionen Menschen dahin. Sie hinterließ wahrscheinlich mehr Tote als jede andere Krankheit davor und danach in der Geschichte. Dieses Ausmaß ist vielen Menschen in jener Zeit nicht bewusst gewesen. In vielen Ländern wurden Todesfälle angesichts des noch wütenden Weltkrieges gar nicht dokumentiert, zeitweise starben auch einfach zu viele Menschen gleichzeitig.

Allein im damaligen Deutschen Reich soll die Spanische Grippe rund 426.000 Menschen das Leben gekostet haben – so viele Einwohner haben Augsburg und Regensburg heute zusammen! Die Erkrankung, die in Deutschland auf von Hunger und Entbehrung geschwächte Menschen traf, begann mit Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen und endete für viele mit einer begleitenden bakteriellen Lungenentzündung und dem Tod wenige Tage später. In der ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, erkrankten sehr viele Menschen, bekamen etwa drei Tage lang Schüttelfrost und Fieber, aber nur wenige starben daran. Im Herbst folgte jedoch eine zweite, diesmal tödliche Welle. Die entfaltete vor allem dort, wo viele Menschen zusammenkamen, ihre große Wucht.

Auffällig ist, dass in den Orten der Samtgemeinde Sögel gemäß den Sterbeeinträgen der einzelnen Kirchengemeinden ganz unterschiedliche Todesraten zu verzeichnen sind. Das damals auf gut 1400 Einwohner angewachsene Sögel z.B. hatte zwischen dem 7. Oktober und dem 27. Dezember nur 10 Todesfälle mit dem Vermerk Grippe und/oder Lungenentzündung zu verzeichnen, in Werpeloh waren es (zw. dem 23.10. – 20. 11.) 3 Fälle, in Stavern (5.11. – 22.12) 6, in Berßen (14.10. – 27.12.) 3 und in Hüven (4.11. – 2.12.) ebenfalls 3 Fälle. In Börger und in der kleinen Gemeinde Spahn hingegen summierte sich alles zwischen 5. November und 12. Dezember auf 14 bzw. 10 Todesfälle durch Grippe, worunter sich in Spahn auch vier russische Kriegsgefangene befanden, die – in der alten Viehwaage am Brink nächtlich auf engem Raum interniert – zwischen dem 24. und 27. November Schlag auf Schlag hinweggerafft wurden. Im nahe gelegenen Harrenstätte starben zeitlich etwas nach hinten versetzt zwei erwachsene Personen. Über die dortige Schulchronik wissen wir ferner, dass es neben zahlreichen schwer Erkrankten noch ein weiteres Opfer, vermutlich im Frühjahr 1919, gab:

„Die diesjährigen Herbstferien mussten bis zum 2. Dezember verlängert werden, da viele Kinder und auch die Lehrerin an der überall verbreiteten (Spanischen) Grippe erkrankten. Dieselbe trat hier jedoch nicht so bösartig auf wie in manchen anderen Orten. Ein junges Mädchen fiel ihr zum Opfer.“

Über die Todesfälle in der Samtgemeinde Werlte konnte noch kein genaues Bild gewonnen werden. Werlte selbst verzeichnet laut den Kirchenbucheinträgen 18 Fälle von Grippe und/oder Lungenentzündung. Allerdings gibt es einen interessanten Eintrag in der Chronik des St. Raphael-Stiftes Werlte von 1890 – 1998, der dem Leser zum Schluss nicht vorenthalten werden soll:

„Im November brach in Werlte die Grippe aus, der zahlreiche Einwohner zum Opfer fielen. Vier Wochen hindurch war unser Krankenhaus von Grippe-Kranken überfüllt und auch außerhalb des Hauses mussten die Schwestern jede Nacht wachen. Unter den vielen Todesfällen, die wir schmerzlich zu beklagen hatten, ist es besonders der Tod der Lehrerin Elisabeth Kaiser, der uns tief betrübte […].“

Vor dem Hintergrund des Dargebotenen mag es den Leser somit vielleicht etwas beruhigen, dass die heute grassierende Pandemie in ihrem Charakter bereits gut durchleuchtet ist und die zurzeit laufenden Eindämmungsmaßnahmen zumindest in deutschen Landen ihre Wirkung zeigen. Ein massenhaftes Wegsterben und damit verbunden ein wie bei Boccaccio geschildertes vollständiges Zusammenbrechen der öffentlichen und sozialen Ordnung stehen somit wohl nicht zu erwarten. Die weitere Hoffnung geht nun dahin, dass die Zahl der Todesopfer sich in Grenzen hält und die Menschheit rasch ein geeignetes und für alle erschwingliches Gegenmittel in die Hände bekommt!

Text: Dr. Heinrich Konen

Literaturhinweise:

Zitat aus den Aufzeichnungen des Hermann Jürgens Behnes (+ 1666). Vgl. die (unveröffentlichte) Chronik der Familie Behnes aus Sögel, zusammengestellt von Carl Behnes und Jürgen Behnes, 1974.

Vgl. Giovanni Boccaccio: Dekameron – Erste Geschichte, Übers. Nach Zeno.org. 

Vgl. Dekamaron ebd.

Vgl.  J. B. Diepenbrock: Geschichte des vormaligen münsterschen Amtes Meppen … 2. Aufl. Münster 1865.

Vgl. Dieter Simon: Oh Herr, wende ab die Pestilenz. Der Schwarze Tod im Emsland und in den benachbarten Regionen. Jb EHB 49, 2003, 281-300

Vgl. Simon a.a.O., S. 292.

Vgl. Diepenbrock a.a.O., S. 463.

Auf dem Freien Hümmling, Sögel 1995, 62f.. 

vgl. Manfred Vasold: Die letzte große Pockenepidemie in Deutschland – 200 Jahre Impfung gegen Pocken. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Band 60, Nr. 4, 2007, S. 183–187

Vgl. die Bemerkungen zu den einzelnen Dörfern in: Kreislehrerverein (Hrsg.): Der Hümmling. Ein Heimatbuch. 1929

Woher die Grippe kam, ist nicht endgültig geklärt – aber wohl nicht aus Spanien. Hier wurde nur zuerst und am Eingehendsten über die Krankheit berichtet. Sie scheint vielmehr im mittleren Westen der USA in Kansas ausgebrochen und mit den Soldaten der Vereinigten Staaten im Jahre 1918 in den Krieg nach Europa gekommen zu sein.

Aus: Heinrich Hömme: Werlte und Umgebung in alten Bildern, Werlte 2005, S. 314.

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