Bangladesch – ein aufstrebendes Armenhaus?

19. Januar 2020

Wir kennen Bangladesch nur aus Presseberichten über Armut, Überschwemmungen, Unglücke, Katastrophen, Unruhen und Überbevölkerung. Die Realität sieht offenkundig etwas differenzierter aus.

Zweifellos ist das Land enorm bevölkert bei einer etwa doppelten Größe von Bayern und 170 bis 180  Millionen Einwohnern. Diese Zahl scheint zu stagnieren, geht evtl. zurück. Denn die Kinderzahl pro Frau verringert sich von ca. 7 auf ca. 2. Selbst wenn diese Angabe übertrieben ist, so hätte auch ein Rückgang auf 4 oder 5 große Bedeutung. Überschwemmungen gibt es jedes Jahr in einem Land, das größtenteils tellerflach ist, das Mündungsdelta dreier riesiger Flüsse (Ganges, Brahmaputra, Megna) bildet und jährlich von Meeres- sowie Monsunfluten heimgesucht wird. Dafür ermöglichen Regen und Flußsedimente bis zu drei Ernten im Jahr. Unglücke und Katastrophen treffen Bangladesch bezogen auf die Bevölkerungszahl vermutlich nicht häufiger als andere Länder. Unruhen ebben in der Regel schnell wieder ab und sind oft örtlich begrenzte Demonstrationen, die in Gewalt ausarten. Das Land ist arm, hat sich inzwischen aber vom untersten Ende der Armutsskala entfernt. So stieg das Pro-Kopf-Jahreseinkommen in den letzten Jahren von gut 500 US-Dollars auf 1516 US-Dollars. Das Bruttoinlandprodukt steigt jährlich um 7 %. Verschiedene Wirtschaftsinstitute zählen Bangladesch zu den aufstrebenden Ländern in derselben Liga wie Türkei, Philippinen oder Vietnam. Gleichwohl lassen sich Slums entlang einer Bahnstrecke in Dhaka auch mit den schönsten Wirtschaftsdaten nicht weg diskutieren. In anderen Ländern, deren Armut bei uns nicht so präsent ist, existieren größere Slums.

Die Bevölkerung gehört zu fast 90 % dem sunnitischen Islam an. Knapp 10 % sind Hindus. Der geringe Rest verteilt sich auf Schiiten, Buddhisten, Christen und Animisten (Anhänger von Naturreligionen). Der hinduistische Einfluss ist noch bedeutend. Anscheinend existiert eine verbreitete synchretistische Gottesverehrung, d. h., Islam, Hinduismus, Buddhismus sowie Animismus durchsetzen einander. Der Islam hat (noch) nicht die verbohrte und verbiesterte Spielart des sich unter saudischem Patronat weltweit verbreitenden Wahabismus/Salafismus angenommen.

Der Unterzeichner sammelte ebenfalls Erfahrungen, die zweifellos bruchstückhaft sind, jedoch Bangladesch nicht auf die gleiche Stufe stellen wie bitterarme Länder, die er bereist hat. (Dies ist nicht das erste Land, das in der persönlichen Erfahrung nicht so wirkt, wie in den Medien hier dargestellt. Es gilt die chinesische Weisheit, dass einmal sehen besser sei als hundertmal hören.)

Fort von den trockenen Wirtschaftsdaten! Die Hauptstadt Dhaka mit ihren geschätzten neun, einschl. umliegenden Orten 20 Millionen Einwohnern ist ein faszinierender Moloch. Man kann sich überall ohne Ängste vor Kriminalität bewegen, denn die Verbrechensrate im ganzen Land ist niedrig. Die Leute verhalten sich freundlich und aufgeschlossen gegenüber dem Fremden. Der jeden Tag und 24 Stunden geöffnete Kawran Basar bietet ein unglaubliches Gedränge von Menschen, Verkaufsständen und Handwerkern. An kleinen Teeschänken, die nicht unbedingt europäischen Hygienevorstellungen entsprechen, wird man ungeniert bestaunt, als komme man vom Mars. Wer etwas Englisch spricht, fragt nach dem Herkunftsland und gibt die Antwort wichtig an die anderen weiter. Fehlt ein Stuhl, dann wird von irgenwo her eine wackelige Sitzgelegenheit gebracht. Eine besondere Faszination geht vom Staßenverkehr aus. Er sollte bei der Unesco als immaterielles Weltkulturerbe angemeldet werden. Mehr als eine Handbreit Raum zwischen Mensch, Rikscha, Pkw und verbeultem Bus gilt als Platzverschwendung. Eindeutige Vorfahrtsregeln erschließen sich dem Fremden nicht. Will man zu Fuß die gegenüberliegende Strassenseite erreichen, muss man mit dem Mut der Verzweiflung vor das nächste Gefährt laufen und, ohne ankommende Fahrzeuge eines Blickes zu würdigen, ruhig weiter marschieren. Bringt man diese Entschlossenheit nicht auf, so beschließt man sein Leben, wo man ist. „Ist“ gibt das Stichwort (allerdings mit ß). Einige Restaurants verlangen eine gewisse Abhärtung. Vor der Türe wird auf einem Holzklotz Fleisch zerhackt. Das Beil dürfte ebenso wie der Holzklotz den Nährboden für die Zucht verschiedener Bakterien bilden. Das sauberste und appetitlichste ist der Strassenstaub. In rostigen Fässern brutzelt Öl. In ihm werden Fladen, deren Herstellung jeden deutschen Bäcker seine Zulassung kostete, gegart. Alles wird so unsäglich scharf gewürzt, dass offenkundig kein Keim überlebt. An die Schnappatmung wegen der Schärfe gewöhnt man sich. Dafür erwirbt man nach drei Mahlzeiten eine Gastritis. Selbst in die Küchen integrierte Toiletten, die man nur als Orte des Grauens bezeichnen kann, überlebt man.

Läßt man sich durch die Strassen treiben, erlebt man die Stadt mit allen Sinnen. Hupen, ohrenbetäubendes Rikschaklingeln, Warenausrufer, Lastenträger, Garküchen, Verkaufsstände, Geschäfte mit bekannten und exotischen Angeboten, Menschgedränge. Augen, Ohren sowie Nase pendeln knapp unter der Überforderung. Die Sinne erholen sich in der Ruhe einer aus dem 18. Jahrhundert stammenden armenischen Kirche. Ruhe findet man auch im Park des imposanten modernen Parlamentsgebäude. Dann stürzt man sich erneut in das Getümmel, bis man den Pink Palace erreicht. Der rosa Palast in weitem Park geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Er wurde mit jedem neuen Besitzer umgebaut und imponiert jetzt mit auwändigem indisch-victorianisch-historisierendem Stil. Er birgt ein umfangreiches Landesmuseum. Ein weiterer pompöser Bau ist die Curzon Hall im indisch-sarazenischem Stil aus dem Beginn der 20. Jahrhundert. Die Curzon Hall stellt heute das Hauptgebäude der Universität von Dhaka dar.

Starke Eindrücke bietet der Hafen von Old Dhaka am Ganges, wenn man mit der Nachtfähre aus der Ruhe der Sundarbans kommend anlegt. Im Hafen findet täglich ein Umschlag von 300 Schiffen und 150 000 Menschen statt. Es scheint fast so, als warte auf jeden eine der 750 000 Rikschas von Dhaka. Das Gedränge von Menschen, Handkarren, Rikschas, Pkw’s und Lkw’s, die mitten im Gewusel anhalten, um zu be- oder entladen, bereitet inzwischen beinahe Spaß.

Hiermit endet die Darstellung Dhakas. Im kommenden Artikel wird der Rest des Landes, das mehr zu bieten hat, vorgestellt.

Bild/Text:UM

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