Die große Tierwanderung
8. August 2017Es gibt viele Massenwanderungen von Tieren: Fischschwärme in den Weltmeeren, Karibus (amerikanische Rentiere) und Pronghorns (Gabelböcke) in Nordamerika, gewaltige Vogelzüge, selbst Monarchfalter in mehreren Generationen vom Norden der USA nach Mexiko und umgekehrt. Wenn jedoch von „der“ großen Tierwanderung gesprochen wird, ist in der Regel die spektakuläre Migration in Tansania und Kenia gemeint. In Afrika finden verschiedene regelmäßige Wanderbewegungen statt: Millionen Flughunde flattern alljährlich aus dem Kongo in ein winziges Gebiet Sambias zu fruchttragenden Bäumen, Springböcke folgen dem Regen im südlichen Afrika, Zebras, Elefanten und Giraffen verlassen die saisonal austrocknende Kalahari mit dem Ziel der Feuchtgebiete des Okawangodeltas. Am faszinierendsten von allen ist aber die kreisförmige Wanderung von Gnus, Zebras und verschiedenen Gazellen in Tansania und Kenia.
Ein bis zwei Millionen dieser Grasfresser suchen stetig frische Weidegründe. In der südlichen Serengeti setzen sie während der dortigen Regenzeit ihre Jungen. Es ist ein beglückendes Erlebnis, Zeuge einer Geburt (hier: Zebra) zu werden. Das Junge muss sich zunächst von der Fruchtblase befreien. Dann bemüht es sich auf die Beine, ist aber noch über die Nabelschnur mit der Fruchtblase verbunden und stolpert immer wieder darüber mit seinen ohnehin staksigen Beinen. Die Mutter will offenkundig helfen, weiß aber nicht, wie. Nach etwa 30 Minuten fällt die Nabelschnur ab. Das Fohlen steht wackelig auf. Mutter und Junges stoßen mit den Nüstern aneinander. Ein Augenblick unbeschreiblicher Harmonie. Sie wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass hinter dem Paar andere Zebras vor Aufregung miteinander kämpfen. Wenn die Stute mit dem Nachwuchs langsam ins Gebüsch trottet, murmelt der Zuschauer: „Alles Gute“ hinterher und hofft, dass das Kleine nicht zur Beute der vielen Raubtiere wird.
Denn Geparde, Leoparden, Hyänen und Löwen lauern überall. Sie leben zurzeit im Schlaraffenland – aber nicht mehr lange. Die Beutegreifer verfügen über feste Reviere und bleiben deshalb stationär. Sobald alles abgeweidet und der Regen beendet ist, ziehen die Grasfresser nach Norden, wo üppige Regenfälle für genug Nahrung sorgen. Die Hyänen – im Gegensatz zur landläufigen Meinung hervorragende Jäger – begnügen sich mit Aas, Leoparden mit Hasen und anderem Kleingetier, Löwen halten tagelang von Kopjes (große Granitsteine) Ausschau nach Beute. Die Herden sind natürlich ständig in Gefahr, da sie ein Raubtierrevier nach dem anderen durchqueren. Ein besonderes Risiko stellen die Flüsse dar. Beim Trinken schlagen Löwen von hinten zu, und Krokodile zerren mit blitzschnellem Sprung die Tiere ins Wasser. Jungtiere sind besonders betroffen, da ihnen diese Gefahr noch unbekannt ist.
Im Fluss Grumeti, einem der Drehorte von Bernhard Grzimeks „Serengeti darf nicht sterben“, lauern Massen an Krokodilen. Besonders packend ist die Querung des Maraflusses. An einigen Uferabschnitten erreichen die wandernden Tiere das Wasser über sanfte Böschungen und können das jenseitige Ufer bequem erklimmen, an anderen Stellen springen sie ein 10 – 15m tiefes Steilufer hinab und suchen auf der anderen Seite oft vergeblich nach einem Aufstieg. Solange Gnus und Zebras beieinander bleiben, werden sie kaum gerissen. Die Krokodile scheuen die wirbelnden Hufe Tausender dicht gedrängter Tiere. Trennt sich eins von dem dichten Strom der Tierleiber, fällt es den Reptilien leicht zur Beute. Nach einigen Tagen permanenter Flussdurchquerungen jagen die Echsen kaum noch. Sie sind vollgefressen oder knabbern nur an den vielen Tierleichen im Fluss. Strömung, Klippen, Beinbrüche oder Erschöpfung haben ihren Tribut gefordert. Etliche Gnus – selten Zebras – wurden von ihren Artgenossen zertrampelt.
In der Masai Mara, der nördlichen Fortsetzung der Serengeti in Kenia, finden die Pflanzenfresser Nahrung im Überfluss, bis alles wieder austrocknet und der Treck in den Süden mit allen Gefahren wieder beginnt. Vorher ist das grüne Land, so weit das Auge reicht, mit Gnus und anderen Antilopen sowie Zebras gepunktet wie das Fell eines Dalmatiners. Bei so viel Beute fehlen natürlich Löwe und Co. nicht. Man stolpert fast über sie. Wenn die Mara sich leert, lassen sich tagelang nicht enden wollende Kolonnen beim Zug durch den Fluss beobachten und bis an den Horizont weiter verfolgen.
Der nächste Bericht führt Sie an die Grenze zwischen Europa und Asien.
Text/Foto: UM