„Sie waren unsere Nachbarn…

25. Dezember 2016

…bis zu ihrer Deportation am 13. Dezember 1941“

Vor 75 Jahren wurden die Sögeler Juden verschleppt und es endete ein jahrzehntelanges friedliches Miteinander von christlichen und jüdischen Mitbürgern.

Am frühen Morgen des 13. Dezember 1941, es war kalt und dunkel, ging der Junge Josef Meyer über den Marktplatz zur St. Jakobus Kirche, um bei der Messe zu dienen. Als er die Glocken läutete, sah er aus dem Turmfenster, dass sich auf dem Marktplatz Männer, Frauen und Kinder mit Koffern, Taschen und Beuteln in den Händen versammelten. Die Gesichter habe er wegen der Dunkelheit nicht sehen können. Aufgefallen seien ihm nur die gelben Judensterne auf den dunklen Mänteln. Nach der Messe verließen die Kirchgänger das Gotteshaus mit dem Friedensgruß „Gehet hin in Frieden“. Auch Josef Meyer ging über den Marktplatz zurück nach Hause, und der Platz war menschenleer. Männer, Frauen und Kinder waren während der Messe gewaltsam auf Lastwagen getrieben worden.
Ziel der langen und beschwerlichen Reise für die Sögeler Juden war das Ghetto in Riga, erinnert sich Louis Grünberg an diesen schrecklichen Tag. „Wir durften nur das Notwendigste, was wir tragen konnten, mitnehmen. Vieles, was uns lieb und teuer war, haben wir zu unseren Nachbarn geschafft.“
Eine Sögelerin erinnert sich an ihre Zeit als junge Verkäuferin in einer Bäckerei. Sie hatte häufig Kontakt zu vielen jüdischen Mitbürgern. Voll Scham denkt sie zurück an eine Begegnung mit einer jungen Mutter, die ihr eines Morgens im Laden leise und verängstigt zuflüsterte, dass sie für ihren dreijährigen Sohn einen kleinen Rucksack mit Trägern aus Strümpfen nähte, damit es ihm unterwegs nicht so weh täte. Eines kalten Morgens, es war der 13. Dezember, habe die dreiköpfige Familie dann mit ein paar Handtaschen ihr Haus verlassen. Sie kamen nie wieder zurück in ihren Heimatort.

Welche Gedanken mögen den vertriebenen Sögeler Juden durch den Kopf gegangen sein beim letzten Blick auf ihren Heimatort?

Kein Nachbar kam, um von ihnen Abschied zu nehmen. Nur SA-Männer standen da, mit Gewehrkolben in den Händen – als letzten Gruß aus ihrem Heimatort, in dem sie jahrzehntelang friedlich lebten.
Mit der Deportation endete abrupt dieses friedliche Zusammenleben  zwischen christlichen und jüdischen Mitbürgern.
„Sie haben mit uns das dörfliche Leben geteilt. Fast alle Männer waren strebsame und erfolgreiche Viehhändler, die mit den Hümmlingern und Emsländern Geschäfte machten“, erinnert sich Grete Ahrens. Auch sei es nichts Besonderes gewesen, als der Jude Gottfried Grünberg Schützenkönig wurde.
„Dieses nachbarschaftliche Miteinander änderte sich spürbar mit den Auftritten der Nazis, die ihren unbeschreiblichen Hass an den Sögeler Juden ausließen.“
Auch Louis Grünberg, 1922 in der Hümmlinggemeinde Sögel geboren, fühlte sich, wie auch die anderen jüdischen Familien, „in eine gute Nachbarschaft eingebunden“. Er erinnert sich an die Hilfe der Nachbarn, auch in einer Zeit, als es verboten war. „Unsere Nachbarn haben uns ständig mit Essen und Trinken versorgt, was für sie nicht ungefährlich war“, so Louis Grünberg, der als einziger mit Artur de Haas 1945 in seinen Heimatort zurückkehrte.
Auch ein anderer in Sögel aufgewachsener Jude kam 1945 als amerikanischer Soldat in seinen Heimatort zurück. „Er wollte noch einmal sein Elternhaus wiedersehen. Er ist still durch die Räume gegangen, hat sich verabschiedet und wurde nicht wieder gesehen“, erinnert sich ein Nachbar noch nach vielen Jahren an diese erschütternde Begegnung.

Und was machten die zurückgebliebenen Sögeler, als die jüdischen Mitbürger aus ihren Häusern, ihrer Nachbarschaft und ihrem Dorf vertrieben wurden?

Die meisten schauten weg und schwiegen aus Angst oder Scham. „Auch in den Jahren danach (während der Nazizeit) war das Thema Juden, ihre Deportation und ihr Schicksal tabu. Wohl aus Angst vor Repressionen der Nazis.“, so Josef Meyer in seiner Erinnerung.
Dieses Schweigen über die NS-Zeit mit all den unsäglichen Verbrechen setzte sich in Deutschland auch in der Nachkriegszeit fort. Es wird ungern über diese Zeit gesprochen – wohl auch in Sögel – weder über die Täter und ihre Untaten, noch über die mutigen Menschen, die auch unter Gefahr Zivilcourage bewiesen. Dieses Verhalten bzw. diese Einstellung vieler Deutscher in den Nachkriegsjahren („Lasst doch Gras über diese Geschichte wachsen! Wir haben jetzt nach dem Krieg doch ganz andere Probleme und Sorgen!“) ist ein eigenes Kapitel und beschäftigt noch heute – zu Recht – die Kinder- und Enkelkindergeneration.

Was erinnert heute in Sögel – 75 Jahre nach der Deportation – noch an unsere ermordeten jüdischen Mitbürger?

(Hier bitte das Bild platzieren)

Auf dem jüdischen Friedhof am „Loruper Weg“ wurden am 01. November 1998 zwei große Gedenktafeln eingeweiht.  Auf diesen sind die Namen aller ermordeten jüdischen Mitbürger eingemeißelt. Denn ein altes jüdisches Sprichwort lautet: „Wenn du die Namen eines Verstorbenen vergisst, lässt du ihn noch einmal sterben.“

Text: Heiner Wellenbrock

 

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