Versuch einer kurzen Darstellung von Mentalität in der Weimarer Republik –
1. Oktober 2015Teil I
Die Geschichtsforschung hat mittlerweile viele Gründe für das demokratische Versagen der Weimarer Republik gefunden: die kaum eingeschränkte Macht des Präsidenten, Republikferne der Eliten, autoritäre und nationalistische Grundmuster, Dolchstoßlegende, ökonomische Probleme, die fragwürdige bis verhängnisvolle Rolle einzelner Personen (insbes. von Papen, Schleicher, Hindenburg) und vieles andere mehr. Diesen Erklärungen soll mit der folgenden Darstellung eine weitere Facette hinzugefügt werden, zumal die Historiker mittlerweile monokausale Erklärungen ablehnen und auf die Verflechtungen der einzelnen Gründe verweisen.
Geistesgeschichtliche Situation
Die Deutschen waren noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stolz darauf, als das Volk der Dichter und Denker zu gelten. Die meisten dieser Dichter und Denker fußten auf der Aufklärung und/oder setzten sie fort. Wesentliche Bestandteile der Aufklärung sind Humanität, Freiheit, Menschenwürde, Toleranz und Vernunft. In die Vernunft sollte die Moral eingebettet sein. Allerdings verkoppelte sich während der napoleonischen Besetzung und der Befreiungskriege mit dem Gedanken der Freiheit der der Nation. Man hoffte, in einem geeinten Deutschland die Fürstenwillkür einzuschränken und mit einer Verfassung das Verhältnis zwischen Volk und Individuum einerseits sowie Monarch und Obrigkeit andererseits zu regeln. In dem Nationalgedanken liegt jedoch auch der Keim zu übertriebenem Nationalismus.
Man muss sich die Frage stellen, warum in der Zeit der Weimarer Republik die hohen Ideale der Aufklärung sich nicht so durchsetzen konnten, dass eine gefestigte Demokratie – eines der wichtigsten Resultate der Aufklärung – entstand. Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, bedarf es eines Ausflugs in die Psychologie/Sozialpsychologie.
Psychologische-sozialpsychologische Erläuterung
Jeder Mensch benötigt Identifikationsobjekte. Beim erwachsenen Menschen gilt dies umsomehr, je ich-schwächer er ist. Nach der üblichen tiefenpsychologischen Schichtenlehre besteht die Persönlichkeit aus Es – Ich – Überich. Das Es lässt sich vereinfacht als Triebstruktur bezeichnen, das Überich als Gewissen. Letzteres ist der Speicher von Werten und Normen, die im Lauf der Sozialisation vermittelt werden. Das Ich entwickelt sich unter anderem aus dem Spannungsverhältnis zwischen Es und Überich. Die sozialen Werte und Normen, die soziale Ethik und Mentalität werden auf der Persönlichkeitsebene Teil der individuellen Moral. Ein voll entwickeltes Ich beinhaltet Es und Überich. Es ist weder dem einen noch dem anderen hilflos bzw. zwanghaft ausgeliefert. Das Ich bildet im Sinne hegelscher Dialektik eine Synthese aus Es und Überich, d. h., beide stecken im Ich in der dreifachen Bedeutung des Wortes aufheben: nicht mehr existent, auf höherer Ebene und bewahren. Einfacher ausgedrückt: Gut sozialisierte und ich-stabile Persönlichkeiten verfügen über einen inneren
Kreiselkompass (David Riesman, Die einsame Masse,1956), der ihnen in unterschiedlichen Situationen anzeigt, was gut und richtig ist. Diese Menschen kann man auch als innengelenkt bezeichnen im Gegensatz zu außen- und traditionsgelenkten Menschen (Riesman). Der außengelenkte Mensch ist in seinem Verhalten stark abhängig von Situationen und Beeinflussungen durch andere. Der traditionsgelenkte Mensch kommt dem innengelenkten nahe, er ist aber innerlich starrer und weniger flexibel. Die im Gewissen gespeicherten Werte und Normen sind „veraltet“, entsprechen früheren Vorstellungen. (An dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, dass es sich um sogen. Idealtypen handelt, dass sie also in hundertprozentiger Ausprägung in der Realität nicht vorkommen.)
Zur weiteren Erläuterung ist eine kurzer Klärung der Begriffe „Bezugsgruppe“ sowie „Identität“ nötig. Eine Bezugsgruppe ist jedes geschätzte oder verachtete Kollektiv, an dem ich mich ausrichte. Dabei ist es nicht nötig, dass ich mit der Bezugsgruppe in Kontakt stehe. Eine Interaktion mit ihr erhöht allerdings die Wahrscheinlichkeit einer Übernahme ihrer Haltungen, ihres Verhaltens, ihrer Normen und Werte in meine Identität. Wenn ich mich mit einer Bezugsgruppe identifiziere, muss ich sie erst identifizieren als eine Gruppe, die mir gefällt. Ich übernehme ihre Haltungen, also eine der Grundlagen meines Verhaltens, in meine Persönlichkeit, ich bilde Identität (lat.: idem = derselbe) mit der Gruppe. Habe ich z.B. eine nationalkonservative Grundeinstellung, dann identifiziere ich mich in der Regel mit einer Gruppe, deren Meinungen, Haltungen und Verhalten dieser Grundeinstellung nahe kommen oder entsprechen.
Fortsetzung folgt…
Text/Foto: UM