Holocaust-Überlebende Erna de Vries erzählt Schüler/-innen der Schule am Schloss ihre Überlebensgeschichte als Zeitzeugin
2. Juni 2015Sögel – „Du wirst überleben, und dann wirst du erzählen, was mit uns geschehen ist“, so lautete der Auftrag, den Erna de Vries bei der Trennung von ihrer Mutter im Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau erhalten hatte. Selbst im Alter von 91 Jahren folgt sie dieser Aufforderung schon seit über 20 Jahren und war daher auf Einladung von Lehrerin Angela Eilermann, Fachleitung Religion, kürzlich wieder in Sögel. Diesen besonderen Besuch sieht die Schule als wichtigen Beitrag, um die Schüler der 8., 9. und 10. Klassen für das Thema Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu sensibilisieren und um sie zu warnen, dass in Zukunft nicht wieder ähnliche Gräuel geschehen. Fächerübergreifend hatten sich die Schüler/-innen auf den Besuch von Frau de Vries und ihrer Thematik im Geschichts-, und Religionsunterricht vorbereitet und lauschten nun aufmerksam und tief bewegt den Worten der Zeitzeugin Erna de Vries.
Erna de Vries, die 1923 in Kaiserslautern geboren wurde und heute in Lathen als Ehrenbürgerin wohnt, begann ihre Schilderung damit, dass ihr Vater Protestant war und ihre Mutter Jüdin. Kurz nach Hitlers Machtergreifung 1933 begannen die Anfeindungen gegen jüdische Bürger: Bekannte grüßten nicht mehr, beim Kaufmann wurde sie angefeindet, sie musste die öffentliche Schule verlassen und durfte nicht mehr mit der Straßenbahn fahren. Sie war 15 Jahre alt, als im November 1938 eine aufgebrachte Menge die Wohnung ihrer Familie verwüstete und den gesamten Hausrat zerstörte. Erna und ihre Mutter wurden noch am selben Tag aus Kaiserslautern ausgewiesen, denn diese Stadt hatte sich zum Ziel gesetzt „judenfrei“ zu werden. Erna de Vries berichtete davon, wie sie einen Teil dieses Tages im Regen auf dem Friedhof am Grab ihres verstorbenen Vaters verbrachten und später in die Wohnung zurückkehrten, wie eine Nachbarin ihnen heimlich Suppe brachte und ihre Mutter nach Jahren der Anfeindung nun zusammenbrach. Nachdem sie zu Verwandten nach Köln geflohen waren und dort mit ihnen auf beengtem Raum wohnten, kehrte ihre Mutter nach Kaiserslautern zurück, während Erna in Köln blieb. Sie arbeitete in der Krankenpflege, um ihre verwitwete Mutter finanziell zu unterstützen. Ihr sehnlichster Wunsch, Ärztin werden zu können, wurde ihr jedoch verwehrt. Um ihre Mutter wiederzusehen, fuhr sie nach Kaiserslautern, und als sie dort war, erhielt ihre Mutter den Befehl, sich für die Deportation bereitzuhalten. Erna wollte mit ihr gehen und mit ihr zusammenbleiben. Deshalb setzte sie alles daran, eine Erlaubnis dafür zu bekommen. Mutter und Tochter Korn wurden mit einem Gefangenentransport nach Auschwitz deportiert, wo sie unter anderem auch eine Häftlingsnummer auf ihren linken Arm tätowiert bekamen. Sie gehörten zu einem Arbeitskommando, dass in einem Teich Schilf schneiden musste. Erna war in dieser Zeit 19 Jahre alt.
Jeden Morgen führte der Weg die Gruppe der Arbeiterinnen an den Krematorien vorbei. Manchmal sahen sie Leichenberge davorliegen. „Wir wussten genau, was auch mit uns passieren sollte!“, berichtete Frau de Vries. Durch das stundenlange Stehen im Teichwasser infizierten sich ihre Beine, und die großen Wunden verheilten nicht. Ein Arzt, der selektierte und entschied, wer arbeitsfähig sei, schickte Erna in den Todesblock Nr. 25, wo sie am anderen Tag vergast werden sollte.
Eine bedrückende Stille herrschte in der Aula des Hümmling-Gymnasiums und die Schüler/-innen lauschten betroffen den weiteren Schilderungen. Sie hatte nur noch einen Wunsch, bevor sie sterben sollte, „die Sonne zu sehen“. Als sie die ersten Sonnenstrahlen erblickte, wurde ihre Nummer aufgerufen. Ein SS-Mann sagte zu ihr: „Du hast Glück!“ Weil Ernas Vater evangelisch gewesen war, gehörte sie zu den 84 Frauen, die an diesem Tag als sogenannte Halbjüdinnen (ein Begriff aus dem NAZI- Jargon) von Auschwitz in das KZ Ravensbrück gebracht wurden, wo sie Kriegsmaterial für den sog. Endsieg produzieren sollten auf Befehl von Hitlers engstem Vertrauten, Heinrich Himmler. Es gelang Erna, noch einmal ihre Mutter zu treffen, um sich von ihr zu verabschieden. Dabei erhielt Erna von ihrer Mutter den schon am Anfang dieses Berichtes erwähnten Auftrag, bevor diese dort verstarb.
In Ravensbrück seien die Häftlinge als Arbeitskräfte besser behandelt worden als in Auschwitz. Nachdem im April 1945 die Produktion eingestellt wurde, trieben Wachleute die geschwächten KZ- Häftlinge in den Todesmarsch. Tagsüber liefen sie, nachts schliefen sie in den Straßengräben ohne Nahrung. „Nach 7 Tagen konnte ich nicht mehr und wollte völlig erschöpft einfach nur liegenbleiben!“ Doch ihre Freundinnen hoben sie hoch und motivierten sie zum Weitergehen. In der Ferne sahen sie plötzlich, wie sich Leute im vorderen Feld des Trecks umarmten. – Ein amerikanischer Panzerwagen hatte die Häftlinge erreicht: „Da standen wir auf der Straße, hatten die Gräuel der KZs überlebt und waren plötzlich frei!“
Die Schüler waren so sehr bewegt, dass sie einige Zeit benötigten, um das Gehörte zu verarbeiten. Erst dann waren sie in der Lage, offene Fragen an Frau de Vries zu richten. (…..)
„Haben sie noch heute Hass auf die Deutschen?“ Erna de Vries antwortete geduldig: „Ich habe nie Hass empfunden, was mir dabei geholfen hat, das alles zu verarbeiten. Ich habe auch in der schrecklichen Zeit viele gute Menschen an meiner Seite gehabt, die mir geholfen haben, darunter war auch eine gute Nachbarin, die mit Lebensmitteln ausgeholfen und sich dadurch selbst in Gefahr gebracht hat. Ich erlebte immer wieder kleine Gesten des gegenseitigen Helfens und Mutmachens. Weil es diese guten Menschen gegeben hat, kann ich heute noch die Sonne sehen“.
Eine weitere Frage lautete: „Was haben Sie empfunden, als sie gehört haben, dass Ihre Mutter tot ist?“ „Ich habe nur gedacht, jetzt kann ihr niemand mehr was tun“, antwortete Erna de Vries. Ein anderer Schüler fragte: „Welche Emotionen haben Sie, wenn Sie heute das Wort Konzentrationslager hören?“ „Mit Konzentrationslager verbinde ich Hunger, Kälte, schwere Arbeit, mangelnde Hygieneverhältnisse, Ungeziefer, Tote, Schreien, Brüllen und Schlagen“, war die Antwort. Weiter wurde gefragt: „Haben Sie heute noch Albträume wegen der schrecklichen Erlebnisse?“ „Ich behalte keine Träume, aber ich werde jeden Tag durch irgendeinen Anstoß an die schrecklichen Erlebnisse erinnert, allein schon durch die eintätowierte Nummer auf meinem linken Arm“, erklärte Erna de Vries. „Haben Sie darunter gelitten, nicht Ärztin geworden zu sein?“ fragte eine Schülerin. „Ja, anfangs schon, doch heute bin ich stolz, dass einige meiner Kinder und Enkelkinder die Chance hatten, einen medizinischen Beruf zu erlernen“, gab Erna de Vries freudig als Antwort. „Haben Sie Erinnerungsgegenstände an ihre verstorbene Mutter?“, fragte ein anderer Zuhörer. Darauf antwortete sie, sie habe Fotos von ihrer Mutter zurückbekommen, die sie hüte wie einen unwiederbringlichen Schatz.
Abschließend sagte sie den Zuhörern, dass sie mit ihrem Schicksal zufrieden sei, bedankte sich bei den aufmerksamen Zuhörern und versprach: „Solange ich noch die Kraft dazu habe, mache ich mit dem Erzählen meiner Erlebnisse weiter!“ Dazu benötigt sie kein Konzept und keine Notizen, da ihr Kopf voller Erinnerungen an das ist, was damals passierte.
Nach der Fragerunde bedankten sich Konrektor Andreas Bouras und Frau Eilermann bei Erna de Vries für den sehr informativen und bewegenden Vortrag und überreichten Blumen und eine Geldspende für ihre sozialen Projekte.
Text: Angela Eilermann / Foto: Verena Albers