Nach Hause
1. April 2012Bei einer Bahnfahrt saß ich neben einem jungen Mann, der sehr bedrückt wirkte.
Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her, und nach einiger Zeit platzte es aus ihm heraus: dass er ein entlassener Sträfling sei und jetzt auf der Fahrt nach Hause.
Seine Eltern waren damals bei seiner Verurteilung tief getroffen, sie konnten es nicht fassen, ihr eigener Sohn! Im Gefängnis hatten sie ihn nie besucht, nur manchmal einen Weihnachtsgruß geschickt.
Trotz allem hoffte er nun, dass sie ihm verziehen hätten.
Er hatte ihnen geschrieben und sie gebeten, sie möchten ihm ein Zeichen geben, an dem er erkennen könne, wie sie zu ihm stehen.
Hätten sie ihm vergeben, möchten sie an dem großen Apfelbaum an der Strecke ein gelbes Band anbringen.
Wenn sie ihn aber nicht wiedersehen wollten, brauchten sie nichts zu tun, und er würde weiterfahren.
Als der Zug sich seiner Heimatstadt näherte, brachte er es nicht über sich, aus dem Fenster zu schauen.
Wir tauschten die Plätze und ich versprach, auf den Apfelbaum zu achten.
Dann sah ich ihn, der ganze Baum über und über mit gelben Bändern behängt.
Er sah hinaus, Tränen standen ihm in den Augen.
Mir war, als hätt‘ ich ein Wunder miterlebt.
Und vielleicht war‘s auch eins.
Quelle: Typisch! Kleine Geschichten für andere Zeiten
Verein Andere Zeiten Hamburg 2005